Die Steinigung in Sebokeng

Sebokeng

Viertel vor Elf – Rauchschwaden! Samstag. N1 Richtung Süden. Nördlich die trostlose Burenstadt Vereeniging. Wir verlassen den Freeway und fahren östlich. Der Karte zufolge führen keine Straßen nach Sebokeng. Nur eine Eisenbahn. Der blaue Chrysler rollt über den holprigen Belag. Ratthe biegt ins Township ein. Kein Asphalt! Dirt road. Schlaglöcher. Staub. Dreck auf beiden Straßenseiten. Im Freien reparieren Männer einen weißen Toyota Bakkie. Blaue und gelbe Schweißflaschen stehen neben einer primitiven Hebebühne. Ein verrosteter Werkzeugwagen mit Knarre, Nüssen, Maulschlüsseln und Schraubenziehern. Sie rauchen im Stehen. Zäune aus Eisen. Nackt; keine Farbe. Maschendraht. Rost. Shacks mit wenigen Quadratmetern Garten. Blasser Rasen. Wieder Asphalt. Drähte für die Wäsche. Staub – überall Staub! Unrat – überall Unrat. Vor einem doppelstöckigen Buswrack türmt sich grüner Kopfsalat auf schräg aufgestellter Pappe. „Sale“ steht in schwarzen Buchstaben auf einer grauen Unterlage im Fenster. Daneben, Verkauf von Früchten aus einem ruinierten LKW. Sipho’s Fruit Distributor ist auf der Rückwand zu lesen. Ein Einkaufswagen steht herum.

Lebensmittelverkauf im ausgedienten Bus
Lebensmittelverkauf im ausgedienten Bus. Foto: Ralf Gründer

Zerfetzte Mülltonnen, platt gewalzte Bierdosen, Chekkers hängen in den Dornen der Zäune am Wegesrand und trotzen der Verwitterung. Autowracks, Blechdosen, Knochen. Das wenige Grün ist verborgen unter dem Grau des Zerfalls. Nördlich – Egoli, die Stadt des Goldes. Südlich – Sebokeng, Schwarzensiedlung. Armutshütten, stinkende Kloaken, verstopft, zerbrochene Rohre, unaufhaltsamer Zerfall. Nomavenda thront auf dem Beifahrersitz. Sie ist klein, fettleibig – schwarz. Der Ethnie Zulu zugehörig. Sie dirigiert. Es gibt keine Straßennamen, keine Hinweißschilder, keine Richtungen. Nur wenige Bäume. Das Township ist überall. Ampeln, Robot genannt, funktionieren nicht. Sollten sie intakt sein, fahren dennoch viele bei Rot über die Kreuzung. Noma arbeitet als Journalistin für den Star. Sie ist gut. Sie ist netter, als sie gut ist. Mehrere Kinder sahen durch ihr das Licht der Welt. Sie kennt die Townships. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in SOWETO. Auch heute lebt sie im Township. Es ist ihr Blut. Ihr Wissen. Ihre Kompetenz. Die Wachen am Eingang lassen uns nicht ins Sebokeng Krankenhaus. Resigniert seufzt Noma, das wir die Verletzten nicht interviewen können. Der Wagen rollt langsam in Richtung der Rauchsäulen. Aus der Verankerung herausgerissene Zaunelemente sind als Barrikaden zweckentfremdet worden und versperren dürftig die Straße. Der Boden ist rotbraun. Wasserlachen gammeln am Rinnstein. Menschen folgen dem Rauch der brennenden Häuser. Gelbe Caspirs bahnen sich den Weg durch die Menschenmassen und den unnützen Barrikaden. 

Polizei-Caspir
Polizei-Caspir. Foto: Ralf Gründer (12.01.1991)

 Viele sind nur schaulustig. Ein stahlgraues Blau färbt den Himmel. Weiße freundliche Wolken verteilen sich fleckig bis zum Kuß Horizont mit Elend. Wir halten in der Veena Street. Reste eines blau weiß gesteiften Zeltes sind zu erkennen.

Polizeieinsatz ohne Einsatz.
Polizeieinsatz ohne Einsatz.

Getrocknete Blutlachen versiegen auf dem feinstaubigen Boden ringsherum. Ein Mann sitzt unter einem Baum. Mampayi Nangelembe ist ein Verwandter des Opfers. Der Zeltstoff ist von Schußlöchern durchsiebt. Tage zuvor war ein junger Mann, von dem Freunde sagen, er sei ein ANC Organiser gewesen, von mehreren Männern in den Kofferraum eines Autos hinein gezwungen und weggefahren worden. Christoffel Mpikeleli Nangelembe wurde am folgenden Tag darauf zu Tode stranguliert auf einer Mülldeponie am Rande von Sebokeng aufgefunden. Freitag Nacht versammelten sich bei Rachel Ncube in der Veena Straße 300 Freunde und Verwandte, darunter Kinder, Frauen und Männer zur Nachtwache. Im Zelt mit blau weißen Streifen sangen und beteten sie. Sie tranken, aßen, sie sangen und beteten für den Ermordeten eine Mischung aus christlichem Glauben und urzeitlichem Magandzelo. Die Vorfahren werden aufgerufen und Opfergaben für ihr Leben in der dunklen Zeitgleichheit übergeben. Sie werden informiert, das einer der Ihren in das Reich des Todes Einzug gehalten hat. Über dem Zelt mit den Gästen wehte an der Spitze eines Holzmastes die ANC-Fahne.

Um 3 Uhr, morgens, in der Dunkelheit der Nacht näherte sich ein Fahrzeug dem Haus von Rachel Ncube. Später berichteten Augenzeugen, daß es das selbe Auto gewesen sei, daß das Kennzeichen YBA 7785 identisch gewesen sei, mit dem Auto, das Christoffel entführt hatte. Dies wurde auch dem ermittelnden Leutnant van Zyl der SADF mitgeteilt. Es war ersichtlich, daß die Meldung im rötlichen Staub der Tat versanden würde. Zwei andere Augenzeugen behaupteten, es wären mehrere Männer gewesen. Sie schlichen im Schutz der Dunkelheit über einen Hinterhof zu den Eingängen des Grundstückes von Frau Ncube. Kalt – stahlkalt feuerten sie in die friedliche Totenwache hinein. AK 47’s ratterten. Handgranaten wurden geworfen und zerrissen die Opfer am Boden. Alles Schrie. Tobte auseinander. Rannte in den Schutz der Dunkelheit. Tote blieben in ihrem Blut zurück. Mit den letzten Atemzügen ihrer Leben hauchten die Sterbenden ihr Blut in den losen Mutterboden der Sippe. Die Verletzten und Verstümmelten schrien im Chaos der fetzenden Gewalt vor Schmerz und Panik. Rachel überlebte. „Wir wollten Christoffel beerdigen. Jetzt haben wir 35 Todesopfer, mehr als 50 Verletzte“ und 75 abgefeuerte AK 47 Patronen. Bei Sonnenaufgang versammelten sich weitere Angehörige, Nachbarn und Menschen der Umgebung. ANC-Mitglieder und – Sympathisanten erschienen am Tatort. Traurigkeit stand in den Gesichtern. Vermutungen über die Täter brannte wie Feuer in den Köpfen. Imaginäre Schreie forderten Wiedergutmachung; Rache! Eine Bande Krimineller, rekrutiert aus dem Umfeld der Inkatha-Bewegung, genannt „Five Star“, wird die Verantwortung zugeschrieben. Die Täter sind nicht zu fassen. Sie verstecken sich. Aber ihre Familien, ihre Eltern oder Geschwister leben in der Nachbarschaft. Einige der Betroffenen mutieren zu viehischem Pöbel. Mit Benzin gefüllte Flaschen krachen durch Fenster und setzen Häuser in Brand. Flammen fressen die Einrichtung. Schwarze Rauchfahnen steigen in der bewegungslosen Luft einige hundert Meter auf. Wie stumme Zeugen des Verbrechens bilden die tiefgrauen Säulen Denkmäler der isochronen Gewalt. Fensterglas birst in lauten Knallen. Menschen fliehen aus den Häusern. Sie verstecken sich im Nebengebäude, in der Außentoilette – irgendwo, wo hoffentlich der Tod nicht lauert. Polizisten erscheinen auf den Straßen. Kurzärmlige himmelhellblaue Hemden. Pistolen sitzen gesichert im Halfter. Maschinengewehre im Anschlag. Sie greifen nicht ein. Sie beobachten, schauen, warten – abwarten. Die überknöchelhohen Synthetikschuhe fräsen ihre Sohlen in den trockenen Grund. Keine Feuerwehr hetzt zu den Bränden. Keine Alarmlichter flickern. Niemand löscht. Kein Eimer Wasser wurde am Feuer verschwendet. Eine Mutter steht mit ihren halbwüchsigen Kindern vor dem Haus und beobachtet die Vorbeiziehenden. Die Ausdrücke der Kindergesichter sind betoniert im Spiegel der Gewalt. Die Mutter scheint die destruktive Kraft der Massen zu kennen; sie überlebte – diesmal. Im Gesicht eines unbeteiligten Mannes glänzt der Karneval des Grauens. Wie ein erbauender Morgenspaziergang flanieren Gruppen von Menschen entlang der brennenden Häuser. Vor dem ausgebrannten Haus von Pauline Bokwase treffen Polizisten ein. Sie konnte sich vor den Flammen retten. Auf der Straße wartet der Mob. Sie ist verrückt vor Angst. 27 Menschen waren sofort tot. 8 starben im Krankenhaus. Niemand weiß, ob es noch mehr Todesopfer zu beklagen geben wird. Die Küche ist noch halbwegs intakt, doch die anderen Zimmer mit dem wenigen Besitz sind zerstört. Ein blau rotes Kinderauto mit gelben Zierkappen überlebte den Ansturm der Vergeltung. Die Gardinen hängen in Fetzen. Bilderrahmen wurden über Stuhllehnen zertrümmert. Hausrat liegt rußschwarz verkohlt am Boden verstreut. Polizisten versuchen das Opfer zu schützen. Ein Mädchen spielt draußen am Zaun aus Maschendraht. Ihre Hände greifen in die Karos aus Eisen. Ihren Kopf, ihr Gesicht, ihre brunnenschwarzen Augen verbirgt sie hinter der dunklen Schüchternheit ihres Alters. Noma wartet auf der anderen Straßenseite. Sie schreibt Sätze in ihr kleines Notizbuch. Spricht Passanten an. Grüßt bekannte Journalisten. Schreibt. Eine neue Rauchsäule bildet sich über den Dächern in der Nachbarschaft. Noma ruft Ratthe. Sie gehen zum Chrysler und starten den Motor. Über den rotbraun verklebten Dreck rollt der Wagen auf die Straße, zwängt sich langsam durch die Massen, biegt rechts ab, fährt 200 Meter geradeaus, biegt links ab und hält.

Brennendes Haus in Sebokeng
Brennendes Haus in Sebokeng. Foto: Ralf Gründer

Vor ihnen brennt ein Shack. Ratthe geht die 50 Meter zum Haus. Fotografen stürzen an ihm vorbei in Richtung Aktion. Ratthe denkt an die Isochronie des Elends. Er mutmaßt, daß es unmoralisch ist, dem Elend, wie ein blutrünstiger Geier auf ein hilfloses Neugeborenes in der Savanne, dem das Muttertier bei der Geburt verkommen ist, hinterher zustürzen,. Der Shack brennt. Die Menge löst sich auf. Zu spät. Der Mob zusammen mit den Schaulustigen zieht weiter. Insgesamt 8 Shacks wurden im Laufe des Tages vom ANC-Pöbel zerstört. Noma erklärt Ratthe, der erst vor wenigen Wochen aus Deutschland nach Südafrika gekommen ist, daß der Mob sich an vermeintlichen Tätern des Massakers rächt. Die Mörder verstecken sich, sind nicht aufzufinden. Dennoch sind die Rächer überzeugt, das die Five Star Bande verantwortlich ist. Die Mitglieder dieser Gang werden der Zulu, Inkatha– Bewegung zugerechnet. Seit Jahren rotiert die Vermutung durch die Köpfe friedliebender Menschen, das eine „Third Force“ die Hände im Township-Krieg, oder im ethnischen Konflikt Xhosa gegen Zulu, im Spiel hat. Die Third Force wird als eine parastaatliche Institution gedacht, finanziert, bewaffnet und befehligt von reaktionären schwarzen und weißen Kräften der Burenregierung. Ein geistiges Durchdringen des Sachverhaltes ist erschwert. Die Polizei ist beteiligt, sie sind Mittäter. Obwohl sie die Menschen schützen sollten, sie greifen nicht ein, sie kommen zu spät. Festgenommen werden die Systemgegner. Die Opfer beschützt. Verbrechen verschleiert. Das Denken und Handeln für ein selbstbestimmtes politisches System ist verboten. Minderheitenregierung und Feudalismus sind die eigentlichen Gegner. Morde geschehen, Rachemorde folgen. Weitere Morde punktieren den Kalender der Zeit Rot- schwelender Township-Krieg mit bis zu 20 Toten pro Tag. Das neue Südafrika entsteht aus schwarzem Blut, Erniedrigung und Verzweiflung.

Da ist dein Bild, sagt Noma zu Ratthe.

Ein jugendlicher Täter wirft einen Stein gegen die alte Frau, die schon blutend am Boden liegt.
Sebokeng violence: Steinigung einer alten Frau. Foto: Ralf Gründer

Eine alte Frau steht am Straßenrand auf giftgrünem Staub. Sie stürzt. Die Kamera ist im Anschlag. Ein Jugendlicher in kurzer Kakhihose und schwarzem Hemd schleudert einen Betonbrocken auf die liegende Frau. kla…ruutsschhhk. Sie liegt auf dem Boden. Rappelt sich hoch. Stützt den Oberkörper mit den abgewinkelten Armen ab. Unschuldig! – plädiert ihr Geist. Beine in Olive, ein gelbes T-Shirt, blaue Arbeitsjacke, sie schaut, sucht stumme Hilfe bei den willenlosen Zuschauern. Ein Brocken zischt hoch über seinen Kopf, sammelt potentielle Kraft. Rast runter, direkt über ihr. kla…ruutsschhhk. Kracht auf ihren Kopf, rollt über das bleiche Grau des Staubes. Ihr Kopf dröhnt vor Ruhe auf Mutter Erde. Die Masse schaut. Die blaue Jacke rennt – Tor jubelt sein Herz. Die Augen der Masse schauen auf ihn. Tor! Tor! Weitere Steine krachen – dennoch, sie rappelt sich wieder auf. Steht. Wankt. Die Hände suchen nach dem weißen Kopftuch. Sie windet es sich um den Kopf. Schaut tot in die Menge. Niemand hilft ihr. Sie steht in der verstümmelten Masse Mensch. Allein. Ratthe geht zu Noma. Stellt sich zu ihr in der Menge. Noma ist fassungslos. Es ist, als wenn ein Auto die Knochen eines Hundes oder einer Katze unter seinen Reifen zu Staub zerfetzt. Aber das Tier richtet sich auf, schleppt sich weiter, 50 Meter, 100 Meter – um einsam zu sterben. Ratthe geht weiter zurück. Kla…ruutsschhhk – die Übersicht, die fotografische Totale, das brennende Haus im Hintergrund, die Massen der Schaulustigen, Blick runter in die Straße, keine Polizei. Ratthe geht zurück in die Anonymität der Menge. Erst jetzt bemerken die Jugendlichen ihn. Kommen auf Ratthe zu. Schreien ihn an. Verbieten das Fotografieren. Jetzt kommt seine Zeit, denkt Noma. Gerade versuchten sie vor unseren Augen eine alte Frau zu steinigen. Sie sind Mörder, Jugendliche, die brutale Tollwut ist in ihnen. Sie sind bereit. Ratthe entgegnet auf dem Fundament seiner europäischen Ignoranz, das er so lange Gewalt dokumentiert, bis es keine Gewalt mehr zu fotografieren gibt. Also hört auf zu Morden, dann höre ich auf zu fotografieren. Überrascht von der Trivialität der Worte gehen sie zurück zu ihrer Gruppe. Stehen. Warten. Schauen. Denken – was jetzt? Bongani Mnguni, ein freier Fotograf aus SOWETO, schwang seine Kameras auf den Rücken und ging zu den Jugendlichen. In Zulu verteidigte er Ratthes Ansicht. Er sagte ihnen, das sie Tiere sein. Sie entgegneten, ob er denn nicht die Leichen am Morgen gesehen hätte? Er hatte. Aber, so sagte Bongani, er braucht nicht noch mehr Tote. Auch, das wohl kaum diese alte Frau für die Morde der vergangenen Nacht verantwortlich gemacht werden könne. Noma und Ratthe verhalten sich ruhig. Warten ab. Gewinnen Zeit. Die Jugendlichen ziehen weiter. Neue Rauchsäulen müssen entstehen. Gewalt macht süchtig. Der Redaktionsschluß rückt näher.

Jungendliche Täter schleudern Steine gegen eine alte Frau.
Jungendliche Täter schleudern Steine gegen eine alte Frau.

Wir gehen flüstert Noma. Ratthe startet den Automatikwagen. Er rollt an. 90 Minuten später sind sie in Sauerstreet, Newtown, Johannesburg.

Frau nach Steinigung in Sebokeng
Frau nach Steinigung in Sebokeng. Foto: Ralf Gründer

Die alte Frau wurde später von ihren Peinigern an den Rand von Sebokeng gefahren. Dort legten sie ihr einen mit Benzin gefüllten Autoreifen über die Schultern. Ein Streichholz flammte auf. Ihr Geist erstickte, während der Körper die Flammen bis auf die Knochen ernährte.

Der ANC forderte die Regierung unter Präsident F.W. de Klerk auf, sofort von ihren Ämtern zurückzutreten. Minister Ariaan Vlok verhängte über Sebokeng den Kriesennotstand. Ausgangssperre zwischen 21 bis 4 Uhr morgens! Pünktlich zur Arbeit dürfen sie ihre Armutshütten verlassen. Mit Bussen, Taxen und Zügen pulsieren sie wie graue vernarbte Heerscharen der Nacht in die weißen Stadteile, um den Herrschaften den morgendlichen Tee ans Bett zu servieren. Und Tutu? fragt Noma. Die Kirche sollte als Vermittler für den Frieden arbeiten. Aber wo waren die Prediger? Freitag Nacht? Samstag? Wie die Polizei. Die Priester sind nie da, wenn ihr Zuspruch benötigt wird.

 

 

Text und Fotos: © Ralf Gründer (geschrieben 1991, Chatham Court, Johannesburg, Südafrika)

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